Reflexive Stärkenarbeit als Antwort auf einen entfesselten Selbstoptimierungswahn
Text und Bilder von Moana Neumann
Zahlreiche, komplexe gesellschaftliche Problemlagen und der wachsende Druck immer mehr zu erreichen, beeinflussen in der heutigen Leistungsgesellschaft mehr und mehr Lebensbereiche. Diese Einflüsse können unser Wohlbefinden gefährden.
Zudem zeichnet sich in neoliberal geprägten Gesellschaften ein expandierender Hype der Selbstoptimierung ab. Überall und an jeder Stelle helfen uns digitale Hilfsmittel, wie Apps und Angebote der milliardenschweren Fitness- und Wellness-Branche, bei dieser scheinbaren Lebensaufgabe. Ein Markt voller Möglichkeiten lockt mit Versprechungen, die jedoch mit Vorsicht zu genießen sind, da langfristige Veränderungen immer bei uns selbst beginnen müssen. Wir kommen also nicht darum herum uns dauerhaft für erwünschte Ziele einzusetzen und auch hart an uns zu arbeiten.
Nichtsdestotrotz scheint der von der Gesellschaft vorgegebene Weg zur Selbstverwirklichung die Selbstoptimierung zu sein. Vielleicht gibt es aber eine nachhaltigere und transparentere Alternative? Deshalb ist es wichtig, die Risiken von Selbstoptimierung zu beleuchten und ebenso Alternativen, wie z.B. Stärkenarbeit, zu thematisieren. Die Stärkenarbeit ist seit den 1980er-Jahren eine Haltung und ein Arbeitsansatz der Sozialen Arbeit. Deren grundlegende Handlungsprinzipien sind nicht nur für soziale Berufe wichtig, sondern mit Stärkenarbeit könnte auch sehr viel mehr bewirkt werden. Diese könnte sogar genau das sein, was die Gesellschaft benötigt, um Krisen und Probleme konstruktiver und fairer aufzuarbeiten und nachhaltige Lösungsvorschläge hervorbringen.
Mithilfe von Selbstoptimierung werden in der Regel Verbesserungen angestrebt, die aber gleichzeitig auch eine Anpassung an gesellschaftliche Normen und Erwartungen darstellen, da „besser“ erst im Kontext eines normativen Werte-Systems so definiert werden kann. Der zu beobachtende Trend der Selbstoptimierung ist im Zuge des Neoliberalismus entstanden und hat mit der damit einhergehenden Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen weiteren Aufschwung erhalten. Unser Wirtschaftssystem basiert auf dem Wettbewerbsprinzip, das sich auf die Menschen, die nicht nur um einen Arbeitsplatz, sondern auch um gesellschaftliche Anerkennung konkurrieren, überträgt. Der Druck auf Einzelne erhöht sich dadurch immer mehr, da alle Menschen in vielen verschiedenen Bereichen gegeneinander konkurrieren und es so zu einem Selbstoptimierungszwang kommen kann. Der Staat, die gesellschaftlichen als auch die ökonomischen Strukturen sind eng miteinander verwoben und auf produktive Bürger*innen angewiesen, weshalb es überall in der Gesellschaft als erstrebenswert angepriesen wird sich selbst immer weiter zu verbessern. An jede*n werden die gleichen Erwartungen gestellt, obwohl soziale Ungerechtigkeiten den Ist-Zustand prägen und Ressourcen und Möglichkeiten, zum Beispiel im Bereich der Bildung, somit ungleich verteilt sind. Der Anspruch der Selbstoptimierung kann dementsprechend kontraproduktiv wirken, da dieser für bestimmte Probleme, für deren Lösung aber keine notwendige Unterstützung gegeben wird, sensibilisieren kann. Außerdem werden so gesellschaftliche Probleme privatisiert und der damit einhergehende Druck immer mehr verinnerlicht, was unter anderem das Risiko für Burn-Out-Erkrankungen erhöht.
An sich sind die Verbesserung des Selbst und die Selbstverwirklichung nicht problematisch. Jedoch droht bei mangelnder Selbstreflexion, dass blind auf Ziele anderer hingearbeitet wird und sich keine anhaltende Zufriedenheit einstellt. Das Risiko sich den Ansprüchen anderer unterzuordnen, steigt außerdem durch den menschlichen Anpassungsinstinkt, der soziale Inklusion sichern soll, weshalb dies bedacht werden sollte.
Da dieses Thema selten in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sondern Selbstoptimierung als selbstverständlich betrachtet und als „einziger“ Weg dargestellt wird, fehlt ein kritischer Blick, der zu der Fragestellung führt, ob es nicht auch eine nachhaltigere und gesündere Möglichkeit zur Erreichung der eigenen Ziele gibt? Die Möglichkeiten sich zu verbessern scheinen unbegrenzt und „auf der Leiter nach oben“ folgt meist unmittelbar nach einem erreichten Ziel die Arbeit am nächsten. Prioritäten und Grenzen zu setzen bleiben also demnach in unserer eigenen Verantwortung, von der uns kein Hilfsmittel freisprechen kann und deren Bedeutung und Potenzial uns selten vermittelt werden. Deshalb ist es wichtig, Selbstoptimierung wieder als eine von vielen Methoden zu sehen, um Ziele zu erreichen. Dadurch wird das Blickfeld weiter und es kann der Fragestellung nachgegangen werden, welche Handlungsalternativen vorhanden sind. Erst dann kann geprüft werden, welche die individuell geeignetste ist.
Stärkenarbeit, im Kontrast zur Selbstoptimierung, setzt immer bei den Menschen selbst an. Es geht dabei nicht um gesellschaftliche Ansprüche, sondern um die individuellen Wünsche von Menschen. So sollen die Selbstwirksamkeit gestärkt und die Arbeit an eigenen Zielen unterstützt werden. Stärkenarbeit verfolgt einen systemischen Ansatz, weshalb bei dieser auch gesellschaftliche Problemlagen mit bedacht und thematisiert werden.
Selbstreflexion ist außerdem zentral, da durch diese eigene Motive, Bedürfnisse und Ziele aufgespürt werden können und somit verhindert wird, dass fremden Zielsetzungen nachgeeifert wird. Ein wichtiger Aspekt davon ist Selbstakzeptanz. Wer lernt, sich selbst und die eigenen Schwächen zu akzeptieren, kann sich voll und ganz auf Stärken konzentrieren und deren Potenzial besser ausschöpfen. Oft liegen Chancen brach, da dies im Bewusstsein einer Gesellschaft, die häufig versucht Schwächen zu beseitigen, noch nicht flächendeckend angekommen ist. Dabei sind Stärken und die Arbeit mit und an ihnen sehr wichtig, da diese uns dabei unterstützen den Alltag, aber auch Krisen, besser zu bewältigen.
Stärkenarbeit erlaubt es uns, uns mit anderen Augen und aus einem positiveren Blickwinkel heraus zu betrachten. Ein essentieller Schritt besteht dabei darin, eigene Stärken und Ressourcen wahrzunehmen und herauszufinden, wie diese zusammenspielen. Dabei sollte ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, welche Eigenschaften gesellschaftlich mehr oder weniger anerkannt werden und was uns an uns gewöhnlich vorkommt. Auch unbedeutend erscheinende Stärken können sehr wertvoll sein und unser Leben positiv beeinflussen.
Dabei ist nicht nur wichtig, was wir bereits „mitbringen“, sondern viel wichtiger ist, was wir daraus machen. Wir alle haben gesellschaftliche Normen, meist unbewusst, verinnerlicht. Wenn wir uns bewusst werden, dass z.B. logisches Denken in der Mehrheitsgesellschaft mehr wertgeschätzt wird als soziale Kompetenzen, können wir solche Normvorstellungen hinterfragen und zu einer eigenen Haltung gelangen. Es scheint paradox, dass manche Stärken auf- oder abgewertet werden, wenn Stärken bereits per Definition etwas grundlegend Positives repräsentieren.
Für die Anwendung in der Praxis ist es wichtig, erreichbare Ziele zu benennen und herauszufinden, welche Stärken und Ressourcen für die Realisierung nützlich und wichtig sind. Wir wissen alle, dass es sehr herausfordernd sein kann große Veränderungen in die Tat umzusetzen. Deshalb sollten Ziele in so kleine Schritte wie möglich unterteilt werden. So kann jeden Tag ein kleiner und vor allem zu bewerkstelligender Schritt in Richtung Ziel gegangen und neue Gewohnheiten etabliert werden. So sind (auch kleine) Erfolge einerseits klar messbar, der Arbeitsprozess aber auch transparent. Falls also Veränderungen des Vorgehens notwendig werden, kann eine Fehleranalyse stattfinden und eine Anpassung erfolgen.
Durch diesen Handlungsplan entstehen Erfolgserlebnisse, die automatisch weiter motivieren und zu spürbaren und selbstbestimmten Veränderungen führen. Dies birgt ein hohes Potenzial für die Steigerung der Selbstwirksamkeit und des allgemeinen Wohlbefindens.
Aber nicht nur für einzelne Menschen sind die positiven Einflüsse der Stärkenarbeit von Bedeutung, sondern auch für das Wohlergehen des näheren Umfelds und der Gesellschaft. Dies liegt darin begründet, dass gestärkte Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit ihr Umfeld positiv beeinflussen und sich dadurch der Wirksamkeitsradius auf weitere Ebenen ausdehnt.
Die Stärkenarbeit stellt demnach nicht nur für Individuen, sondern vor allem auch für die Gesellschaft eine vielversprechende Alternative zur Selbstoptimierung dar, da diese nicht nur einzelne Personen, sondern auch strukturelle Bedingungen und Wechselwirkungen fokussiert und somit nachhaltige Lösungsprozesse begünstigt.
Mehr Informationen zum Thema finden Sie unter anderem in den verwendeten Quellen:
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